Genug geweint! Zu lang im Selbstmitleid gebadet!
Ich musste endlich aufwachen. Es war doch egal, was mir passierte. Wen kümmerte
das schon? Es kam einzig darauf an, mein Schicksal zu akzeptieren. Ich fügte
mich also dem Spiel, welches keine Gewinner kennt und gab der sozialen Distanz
ihr Recht. Fortan verloren Menschen und ihre Schicksale an Bedeutung und
Emotionen wurden zu einer Last, die ich nicht mehr tragen wollte. Ich mutierte
jedoch keineswegs zu einem Misanthropen, nein. Doch kalt wurde ich allemal. Ich
stumpfte ab. Dies war die Zeit, in der ich Paul vergaß, um Pierre zu sein. Die
Klappe fiel!
Dabei entsprang der Name Pierre einem Erotikroman, den meine Mutter in ihrem Nachtschrank gut versteckt glaubte. Dar Roman war schwarz gebunden und auf seinem Deckel stand – geprägt in goldenen Lettern – „The Pierre“. Ich war vielleicht 10, als ich es das erste Mal sah und heimlich damit begann, in seine Welt einzutauchen. „The Pierre“ war jedoch keine Figur sondern Ort der Handlung. Es war und ist bis heute ein Spitzenhotel in New York City mit Blick auf den grünen Central Park.
Für mich war schon damals weniger die Geschichte
als die durch sie aufgebaute Stimmung und die Idee des „The Pierres“ von
Bedeutung. Die beschriebenen Bilder wie die der wunderschönen Zimmermädchen in ihren
schwarzen Putzuniformen mit durchschimmernden weißen Blusen und leichtem
Dekolleté luden mich zum Träumen ein. Im „The Pierre“ traf der goldene Kitsch
des Jugendstils mit seinen zahlreichen, floralen Verschnörkelungen auf die
Funktionalität und Gradlinigkeit der Moderne. Das in diesem Roman dargestellte Hotel
kreierte eine Scheinwelt, eine kostenpflichte Fiktion für all diejenigen, die
dem urbanen Trott ihrer grauen Metropole zu entfliehen versuchten. Das sollte
auch mein Pierre erreichen. Er wurde die Antwort auf die traurige Realität, die
meine Kundinnen umgab, eine Kunstfigur!
Natürlich veränderte ich mich nicht von einem Tag
auf den anderen. Ich fühlte und dachte teilweise wie zuvor. Doch kannte ich nun
den Feind und ignorierte ihn. Dabei begann ich, wie mit unsichtbaren
Scheuklappen bestückt, durch die Stadt zu flanieren und alle Menschen, ihre
Gesichter und Emotionen auszublenden. Und es endete in einer fast vollständigen
Abschirmung meiner selbst.
Auch Martha spürte, welche Veränderung in mir
vorging. Sie bemerkte mein aufgesetztes Lächeln und mein geheucheltes Interesse,
wenn es überhaupt zum Heucheln kam. Sie kannte mich so nicht und erschrak von
Treffen zu Treffen mehr über meinen Wandel.
Einen Monat nach Matthias kam es dann zu einer
Situation, die ich noch heute sehr bereue. Martha hatte einen Kunden, der die
härtere Gangart bevorzugte. Er stand darauf, so grob vorzugehen, dass sie vor
Erniedrigung und Schmerzen schreien und weinen musste. Für Martha war dies
nichts Neues, doch an diesem Tag nahm es sie sehr mit, sodass sie eine Stunde
nach Geschäftsschluss in meiner Tür stand und Trost suchte. Doch ich, ich
konnte ihr nicht mehr geben als ein: „Hör auf zu flennen. Das ist doch unser
Berufsrisiko!“. Das musste gerade ich sagen. Ich, der Dienst-Emo, den noch vor
Kurzem alles mehr verletzte, als gut für ihn war. Martha, meine beste Freundin,
wurde so von mir ins Nichts gestoßen und sich selbst überlassen. Sie stand nur
bleich und zugleich angewidert vor mir und flüsterte: „Was ist nur los mit dir?
Was ist nur passiert…? Der Matthias?“ Und ich, ich wandte mich ab und setzte
mich auf meine Couch. Martha ging und sah nicht zurück. Mich kümmerte es nicht,
noch nicht!
Sie war vorerst Geschichte und mit ihr auch ihre
Hausfrauenkontakte. Selbst Claudia hielt sich seitdem, ohne ein Wort zu sagen,
fern von mir. Egal. – falsches Ego! –
Wen interessierte das schon? Ich war nicht mehr
auf ihre Kontakte oder ihr Geld angewiesen. Ich hatte einen neuen Plan! Meine
letzte Kundin brachte mich darauf. Ich traf sie zwei Tage vor der
Martha-Situation. Sie war aus damaliger Sicht nichts Besonderes. Ich erinnere
mich nicht einmal an ihren Namen. Ich weiß nur, dass er mit „P“ begann. Ich
nenne sie nun einfach Petra Normal. Frau Normal buchte also vier Stunden
Ehemodus. Dementsprechend holte ich sie mit einem weißen Hemd, einem schwarzen
Anzug und Lackschuhen bekleidet von daheim ab, dinierte mit ihr in einem
Restaurant ihrer Wahl und sorgte im Anschluss daheim in ihrem Bett für einen
entspannten Ausklang unseres Arrangements. Es war die ewige Routine! Doch was
sie mir erzählte, brachte die imaginäre Glühlampe über meinem Kopf zum
Leuchten.
Auch Frau Normal war eine Dame, die ihren Gatten
früh verloren hatte. Jedoch nahm sie dies deutlich mehr mit als es bei
vergleichbaren Kundinnen der Fall war, sodass sie sich Woche um Woche in ihre
Trauer-Gesprächsrunde flüchtete. „Eigentlich ist die Trauer bei unseren Treffen
nur ein Vorwand. Eigentlich geht es darum, dass wir einsame Seelen Gesellschaft
suchen“, sagte sie. Dort wollte ich ins Spiel kommen. Dies war jedoch nicht so
einfach, wie ich es mir vorstellte. Die Gruppe war voll und neue Mitglieder
waren entweder nur dann zugelassen, wenn ein Platz frei wurde oder ein Mitglied
eine ausdrückliche Empfehlung vortrug. Kann es denn so schwer sein, einen
weiteren Stuhl zu organisieren?
Na ja, ich fragte Petra also, ob sie mich nicht
dort einführen würde und bot ihr im Gegenzug einen Tag voller Freuden an. Doch
sie weigerte sich nachdrücklich mit dem Aufschrei: „Du bist GESCHMACKLOS!“ und
schickte mich von Dannen. Mit dieser Reaktion rechnete ich nun wirklich nicht.
War es die eingebüßte Empathie, die mich so auflaufen ließ?
Ich ließ ihr 30 Minuten Ruhe und stand daraufhin
erneut, nun jedoch mit einem gelben Rosenstrauß bewaffnet, vor ihrer Tür und
bat sie rufend um Verzeihung. Sie ließ mich mit abschätzigem Blick tatsächlich
nochmal hinein und ich musste vorerst kriechen. Glück gehabt..!
Dank der Rosen hörte sie mir nun zu und zusammen
mit ein paar beruhigenden Floskeln darüber, dass ich nur in die Trauerrunde
möchte, um zu erfahren, wie andere Menschen mit derart schlimmen Problemen
zurechtkommen, ließ sie mich wieder näher an sich heran. Der Rest war einfach. Ein
sanftes Streicheln ihres Nackens und ein paar Liebkosungen später, stöhnte sie
nur: „Dienstag, 20Uhr. Denk dir eine gute Geschichte aus.“ Mein erster Auftritt
sollte kommen!
Der Tag rückte näher und ich dachte nicht ein
einziges Mal darüber nach, welche geschmacklose Grenze ich überschreiten würde.
Ich sah nur die Unabhängigkeit, das Geld. Petra führte mich also ein. Die Runde
war kleiner als ich dachte. Es waren vielleicht 15 Personen, darunter 4 Männer.
Es war enttäuschend! Wir saßen alle in einem Kreis und jeder der reden wollte,
durfte reden. Das Klischee lässt grüßen!
So stand Petra auf und stellte mich mit ernster
Miene als Pierre Schmidt vor, der seine Frau an den Krebs verloren hatte. Mein
Auftritt stand an. Keine Probe. Die Klappe fiel und ich, ich musste überzeugen.
Ich sprach von meiner Frau, von Nicole. Ich sprach von ihrem glatten braunen
Haar, ihrem zuckersüßen Lächeln, das zusammen mit ihren wenigen Sommersprossen
alle Menschen um sie herum erheiterte. Schmunzelnd erzählte ich von ihrem
seltsamen Faible für Footballtrikots und stockend von unserem gemeinsamen
Wunsch, eine Familie zu gründen. Ich sprach davon, dass unser Leben perfekt
war, bis bei ihr eines Tages nach einem Schwächeanfall Leukämie diagnostiziert
wurde und der lange Abschied begann. „Ich liebte sie so sehr und pflegte sie
Jahr für Jahr. Wir überstanden jede einzelne Chemotherapie und sie… SIE starb
dennoch. Wir beide verloren den Kampf, doch nur Nicki musste dafür bezahlen und
ich… ich blieb einsam zurück…“ Ich weinte bitterste Tränen, die jedes Krokodil
neidisch gemacht hätten. Und da kam auch schon mein erster Erfolg. Sie hieß
Gabrielle und nahm mich herzlich in den Arm. Auch sie hatte Tränen in den Augen
und wie sich in der Zukunft herausstellen sollte, auch ein prall gefülltes Portemonnaie in ihrer Handtasche, meine
Gage!
Du solltest mehr schreiben, dich weiterhin aufs Schreiben konzentrieren. Es ist wirklich gut, und ich habe Ahnung davon. Auch wenn du jetzt noch nicht bekannt bist, dass wird noch kommen. Ich möchte auf jeden Fall weiterlesen.
AntwortenLöschenIch verfolge deine Geschichte um Pierre auch regelmäßig, sie wunderbar geschrieben, direkt, kraftvoll! Bitte bleibe unbedingt dabei, ich werde hier weiterhin regelmäßig nach Fortsetzungen schauen.
AntwortenLöschenMir gefällt sie auch total gut :)
AntwortenLöschenIst genau der Schriebstil den ich gerne lese, einigermaßen direkt und nicht zu detailliert, sodass man sich seinen Teil an vielen Stellen denken kann!
Wir warten auf Nachschub.
AntwortenLöschennachdem ich heute endlich mal zeit und muße hatte, hab ich nochmal von anfang an gelesen. und jetzt bin ich grade so ein bisschen geknickt, weil es noch nicht mehr zu lesen gibt. schade!
AntwortenLöschenich hoffe, dass du schon fleißig am nächsten kapitel arbeitest.
liebe grüße ;)
Hey Mister, was ist denn nun hier los? Nichts mehr? :(
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