Montag, 11. Februar 2013

Kapitel 5, Das Ende der Moral

Genug geweint! Zu lang im Selbstmitleid gebadet! Ich musste endlich aufwachen. Es war doch egal, was mir passierte. Wen kümmerte das schon? Es kam einzig darauf an, mein Schicksal zu akzeptieren. Ich fügte mich also dem Spiel, welches keine Gewinner kennt und gab der sozialen Distanz ihr Recht. Fortan verloren Menschen und ihre Schicksale an Bedeutung und Emotionen wurden zu einer Last, die ich nicht mehr tragen wollte. Ich mutierte jedoch keineswegs zu einem Misanthropen, nein. Doch kalt wurde ich allemal. Ich stumpfte ab. Dies war die Zeit, in der ich Paul vergaß, um Pierre zu sein. Die Klappe fiel!

Dabei entsprang der Name Pierre einem Erotikroman, den meine Mutter in ihrem Nachtschrank gut versteckt glaubte. Dar Roman war schwarz gebunden und auf seinem Deckel stand – geprägt in goldenen Lettern – „The Pierre“. Ich war vielleicht 10, als ich es das erste Mal sah und heimlich damit begann, in seine Welt einzutauchen. „The Pierre“ war jedoch keine Figur sondern Ort der Handlung. Es war und ist bis heute ein Spitzenhotel in New York City mit Blick auf den grünen Central Park.

Für mich war schon damals weniger die Geschichte als die durch sie aufgebaute Stimmung und die Idee des „The Pierres“ von Bedeutung. Die beschriebenen Bilder wie die der wunderschönen Zimmermädchen in ihren schwarzen Putzuniformen mit durchschimmernden weißen Blusen und leichtem Dekolleté luden mich zum Träumen ein. Im „The Pierre“ traf der goldene Kitsch des Jugendstils mit seinen zahlreichen, floralen Verschnörkelungen auf die Funktionalität und Gradlinigkeit der Moderne. Das in diesem Roman dargestellte Hotel kreierte eine Scheinwelt, eine kostenpflichte Fiktion für all diejenigen, die dem urbanen Trott ihrer grauen Metropole zu entfliehen versuchten. Das sollte auch mein Pierre erreichen. Er wurde die Antwort auf die traurige Realität, die meine Kundinnen umgab, eine Kunstfigur!

Natürlich veränderte ich mich nicht von einem Tag auf den anderen. Ich fühlte und dachte teilweise wie zuvor. Doch kannte ich nun den Feind und ignorierte ihn. Dabei begann ich, wie mit unsichtbaren Scheuklappen bestückt, durch die Stadt zu flanieren und alle Menschen, ihre Gesichter und Emotionen auszublenden. Und es endete in einer fast vollständigen Abschirmung meiner selbst.

Auch Martha spürte, welche Veränderung in mir vorging. Sie bemerkte mein aufgesetztes Lächeln und mein geheucheltes Interesse, wenn es überhaupt zum Heucheln kam. Sie kannte mich so nicht und erschrak von Treffen zu Treffen mehr über meinen Wandel.

Einen Monat nach Matthias kam es dann zu einer Situation, die ich noch heute sehr bereue. Martha hatte einen Kunden, der die härtere Gangart bevorzugte. Er stand darauf, so grob vorzugehen, dass sie vor Erniedrigung und Schmerzen schreien und weinen musste. Für Martha war dies nichts Neues, doch an diesem Tag nahm es sie sehr mit, sodass sie eine Stunde nach Geschäftsschluss in meiner Tür stand und Trost suchte. Doch ich, ich konnte ihr nicht mehr geben als ein: „Hör auf zu flennen. Das ist doch unser Berufsrisiko!“. Das musste gerade ich sagen. Ich, der Dienst-Emo, den noch vor Kurzem alles mehr verletzte, als gut für ihn war. Martha, meine beste Freundin, wurde so von mir ins Nichts gestoßen und sich selbst überlassen. Sie stand nur bleich und zugleich angewidert vor mir und flüsterte: „Was ist nur los mit dir? Was ist nur passiert…? Der Matthias?“ Und ich, ich wandte mich ab und setzte mich auf meine Couch. Martha ging und sah nicht zurück. Mich kümmerte es nicht, noch nicht!

Sie war vorerst Geschichte und mit ihr auch ihre Hausfrauenkontakte. Selbst Claudia hielt sich seitdem, ohne ein Wort zu sagen, fern von mir. Egal. – falsches Ego! –

Wen interessierte das schon? Ich war nicht mehr auf ihre Kontakte oder ihr Geld angewiesen. Ich hatte einen neuen Plan! Meine letzte Kundin brachte mich darauf. Ich traf sie zwei Tage vor der Martha-Situation. Sie war aus damaliger Sicht nichts Besonderes. Ich erinnere mich nicht einmal an ihren Namen. Ich weiß nur, dass er mit „P“ begann. Ich nenne sie nun einfach Petra Normal. Frau Normal buchte also vier Stunden Ehemodus. Dementsprechend holte ich sie mit einem weißen Hemd, einem schwarzen Anzug und Lackschuhen bekleidet von daheim ab, dinierte mit ihr in einem Restaurant ihrer Wahl und sorgte im Anschluss daheim in ihrem Bett für einen entspannten Ausklang unseres Arrangements. Es war die ewige Routine! Doch was sie mir erzählte, brachte die imaginäre Glühlampe über meinem Kopf zum Leuchten.

Auch Frau Normal war eine Dame, die ihren Gatten früh verloren hatte. Jedoch nahm sie dies deutlich mehr mit als es bei vergleichbaren Kundinnen der Fall war, sodass sie sich Woche um Woche in ihre Trauer-Gesprächsrunde flüchtete. „Eigentlich ist die Trauer bei unseren Treffen nur ein Vorwand. Eigentlich geht es darum, dass wir einsame Seelen Gesellschaft suchen“, sagte sie. Dort wollte ich ins Spiel kommen. Dies war jedoch nicht so einfach, wie ich es mir vorstellte. Die Gruppe war voll und neue Mitglieder waren entweder nur dann zugelassen, wenn ein Platz frei wurde oder ein Mitglied eine ausdrückliche Empfehlung vortrug. Kann es denn so schwer sein, einen weiteren Stuhl zu organisieren?

Na ja, ich fragte Petra also, ob sie mich nicht dort einführen würde und bot ihr im Gegenzug einen Tag voller Freuden an. Doch sie weigerte sich nachdrücklich mit dem Aufschrei: „Du bist GESCHMACKLOS!“ und schickte mich von Dannen. Mit dieser Reaktion rechnete ich nun wirklich nicht. War es die eingebüßte Empathie, die mich so auflaufen ließ?

Ich ließ ihr 30 Minuten Ruhe und stand daraufhin erneut, nun jedoch mit einem gelben Rosenstrauß bewaffnet, vor ihrer Tür und bat sie rufend um Verzeihung. Sie ließ mich mit abschätzigem Blick tatsächlich nochmal hinein und ich musste vorerst kriechen. Glück gehabt..!

Dank der Rosen hörte sie mir nun zu und zusammen mit ein paar beruhigenden Floskeln darüber, dass ich nur in die Trauerrunde möchte, um zu erfahren, wie andere Menschen mit derart schlimmen Problemen zurechtkommen, ließ sie mich wieder näher an sich heran. Der Rest war einfach. Ein sanftes Streicheln ihres Nackens und ein paar Liebkosungen später, stöhnte sie nur: „Dienstag, 20Uhr. Denk dir eine gute Geschichte aus.“ Mein erster Auftritt sollte kommen! 

Der Tag rückte näher und ich dachte nicht ein einziges Mal darüber nach, welche geschmacklose Grenze ich überschreiten würde. Ich sah nur die Unabhängigkeit, das Geld. Petra führte mich also ein. Die Runde war kleiner als ich dachte. Es waren vielleicht 15 Personen, darunter 4 Männer. Es war enttäuschend! Wir saßen alle in einem Kreis und jeder der reden wollte, durfte reden. Das Klischee lässt grüßen!

So stand Petra auf und stellte mich mit ernster Miene als Pierre Schmidt vor, der seine Frau an den Krebs verloren hatte. Mein Auftritt stand an. Keine Probe. Die Klappe fiel und ich, ich musste überzeugen. Ich sprach von meiner Frau, von Nicole. Ich sprach von ihrem glatten braunen Haar, ihrem zuckersüßen Lächeln, das zusammen mit ihren wenigen Sommersprossen alle Menschen um sie herum erheiterte. Schmunzelnd erzählte ich von ihrem seltsamen Faible für Footballtrikots und stockend von unserem gemeinsamen Wunsch, eine Familie zu gründen. Ich sprach davon, dass unser Leben perfekt war, bis bei ihr eines Tages nach einem Schwächeanfall Leukämie diagnostiziert wurde und der lange Abschied begann. „Ich liebte sie so sehr und pflegte sie Jahr für Jahr. Wir überstanden jede einzelne Chemotherapie und sie… SIE starb dennoch. Wir beide verloren den Kampf, doch nur Nicki musste dafür bezahlen und ich… ich blieb einsam zurück…“ Ich weinte bitterste Tränen, die jedes Krokodil neidisch gemacht hätten. Und da kam auch schon mein erster Erfolg. Sie hieß Gabrielle und nahm mich herzlich in den Arm. Auch sie hatte Tränen in den Augen und wie sich in der Zukunft herausstellen sollte, auch ein prall gefülltes Portemonnaie in ihrer Handtasche, meine Gage!