Sonntag, 16. Dezember 2012

Kapitel 2, Die Vorgeschichte

Mein Name ist Pierre, geboren als Paul. Ich bin ü30 und ein Begleiter für gewisse Stunden. Mancher würde auch Prostituierter, Call-Boy oder Stricher zu mir sagen. Ich selbst bezeichne mich jedoch stets als "NUTTE", Nutte seit mehr als 10 Jahren. Mein Leben war weitestgehend zufriedenstellend. Ich wuchs normal auf und meine Mutter gab alles für mich und meinen Bruder. Unseren Vater lernten wir nie kennen. In der Schule war ich nicht sehr gut. Wahrscheinlich war es Desinteresse. Tatsächlich hatte ich in meiner Jugend einige Schwierigkeiten einen akzeptablen Abschluss zu machen. Mittlere Reife wurde es gerade so und mein Lebenslauf gleicht einem Drehbuch aus "Mitten im Leben": In der neunten Klasse bin ich sitzengeblieben, nach drei Monaten aus der Friseurlehre geflogen und danach habe ich ein Jahr im Zentrum für Vollidioten nachgesehen, welche Berufe die besten für mich sein sollten. 

Ich entschied mich jedoch, all dem Geraune zum Trotz, mein Abitur nachzuholen. Es war keine einfache Zeit. Denn im Vergleich zu meinen Mitschülern musste ich die notwendige schulische Vorbildung nahezu von null nachholen. Aber zum Glück habe ich Anschluss gefunden und so half mir ein Mitschüler namens Michael. Er war ein wirkliches Genie. Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich mein Abitur trotz meiner mangelhaften Grundlagen schaffte. Er war mein Held der Bildung! Ich habe ihm wirklich viel zu verdanken. Erfahren hat er das nie. 

Mit dem Abitur in der Tasche eröffnete sich für mich eine neue, eine geistige Zukunft. Ein Traum wurde wahr. Ich durfte studieren und so wurde ich Geologe in spe. Die Universität war für mich fortan die letzte Bastion der Freigeister, die Institution meiner Hoffnung, Ausweg aus der einfachen Welt und Statement zugleich. Ich liebte es zu studieren. Natürlich besuchte ich nicht jedes Seminar und auch Vorlesungsinhalte erschloss ich mir lieber daheim. Aber ein Teil des intellektuellen Spiels gewesen zu sein, reichte mir. Leider war das Studium des Steineklopfens und -leckens, ob der Wissenschaft dahinter, für mich nicht frei oder aufregend genug. Ich wechselte. Zum Glück zahlte ja Vater Staat stets meine Unkosten. Nein…! Ich studierte weiter, nun Geisteswissenschaften, doch die Regelstudienzeit wurde zu einem Joch, das mich erdrückte und die finanzielle Unabhängigkeit mein Befreiungsschlag. Geld… Geld stand plötzlich über allem. Ohne Geld konnte ich nicht studieren. Und nicht studieren zu können, zu scheitern, nochmal zu scheitern, war keine Option. Fortan hieß es, zu arbeiten, zuzuhören, zu schreiben und zu lernen. Ich versuchte mich an vielen Studentenjobs. Doch die wenigsten Arbeitgeber kamen mit mir oder ich mit der Arbeit zurecht.

Mein erster Job war der als Caller! – Telefonhure außerhalb des Sexgewerbes – Ich stellte jedoch schnell fest, dass ich mit einem solchen Dauerhass auf der Leitung nicht zurechtkomme. Manchmal bin ich ein echtes Sensibelchen! Stellt euch das Callen ungefähr so vor: Ihr sitzt gemeinsam mit anderen Huren aufgereiht an großen Tischkomplexen, habt euer Headset auf und nervt – rein zufällig – völlig unbekannte Leute. Alle paar Sekunden oder auch Minuten müsst ihr euch plötzlich auf die individuellsten Charaktere einstellen und euren Text runterbeten. „Guten Tag, mein Name ist: Ihnen-scheiß-egal‘ und ich rufe Sie im Auftrag von: ‚Interessiert-Sie-nicht‘ an. Wir bitten Sie freundlich darum, uns vielleicht und natürlich vollkommen anonym eine Umfrage zu allgemeinen Themen zu beantworten.“ Die Reaktionen der herzlich Belästigten reichten dann bei mir von einem seltenen „ja“; über ein „sanft monoton piependes Geräusch, nachdem der Angerufene auflegte"; hin zu „Nennen Sie mir bitte nochmal ihren Namen. Ich möchte Sie und Ihre Einrichtung verklagen“ und mündeten sehr selten in Hassreden wie: „Ich werde dich finden und umbringen und wenn ich mit dir fertig bin, piss ich auf deine Leiche.“ Menschen können zu freundlich sein.

Diese Form des Callens, auch „Outbound“ genannt, ist jedoch nicht die einzige Option und so kann jeder, der diese Herzchen nur ungern belästigt und lieber angerufen wird, auch im sogenannten „Inbound“ arbeiten. Dort wird man dann von all den Leuten angerufen, die sowieso schon ein Problem mit dem Angebot deines Auftraggebers haben. Läuft also das Internet nicht, kommt die Lieferung nicht an oder ist ein Gerät defekt, bist du und zwar ganz allein nur DU daran schuld. Nettigkeiten sind in diesen Momenten häufig ausverkauft und das Abfeuern der Verbalprojektile beginnt erneut. Es ist nicht so, als wäre jeder Call ein Alptraum. Es gibt wirklich tolle Menschen auf der Leitung, aber leider machen zehn nette Anrufer nicht einen wirklich gemeinen wett. Doch auch bei den Callern ist nicht jeder gleich und manchen ist es einfach egal, was ihnen an den Kopf geworfen wird. Für sie ist das nur ein Job und so arbeiten sie auch. Meine Seele war jedoch nicht dermaßen abgeschirmt, sodass ich aufgeben musste, bevor es mich vollkommen zerstörte. Ich schmiss also das Handtuch. – Sensibelchen zum Zweiten –

Aber es musste weitergehen und so folgten Anstellungen als Tellertaxi im Restaurant, als Putze für Büroräume und als Boulettenjongleur bei den üblichen Verdächtigen. Meist war ich jedoch zu langsam oder nicht ausreichend stressresistent. Ich stand mir stets selbst im Weg. Irgendwann fand ich jedoch den perfekten Job. Ich wurde Rezeptionist in der Nachtschicht eines Hotels. Dort hieß es, zu sitzen, mal den Eingangsbereich zu saugen, mal einem Gast in der Nacht eine Flasche Wein zu bringen und voller Ruhe darauf zu warten, dass der Morgen hereinbrach. Es war zwar nicht mein Traumjob und ich hätte ihn weiß Gott nicht mein Leben lang machen können. Doch ich hielt ihn. Tja, bis Barbara – Marketing Director – eincheckte. Sie war auf Geschäftsreise hier und wollte nicht, wie sie es sagte: „Mit ihren Mitarbeitern in den ‚Spießbuden‘ auf Happy-Dinner machen“ und so kam sie schließlich zu mir. Ich erinnere mich noch genau an ihre begrüßenden Worte: „Du hast aber nicht gerade im Job-Lotto gewonnen, oder?“ Und trotz ihrer schätzungsweise fünfzig Lenze und ihren streng frisierten, kurzen und schwarzen Haaren war sie mir sofort sympathisch. Aber mit ihren Worten hatte sie prompt meinen wunden Punkt getroffen und so heulte und kotzte ich mich in feinster Emomanier die ganze Nacht bei ihr aus.

Es tat einfach gut, sich alles von der Seele reden zu können und sie schien es nicht zu stören. Wir sprachen bis zu meinem Schichtende um 6 Uhr und wollten wohl beide nicht, dass diese Nacht schon so früh endet. Zumindest sah ich ihren Blick, der von Lust und Begierde getragen wurde. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass ich wohl schon damals einen Instinkt für das verborgene Verlangen von Frauen hatte oder, um ehrlich zu sein, sie einfach auf einen jungen und unverbrauchten Jüngling pochte, jugendliche Energie. Ich fragte sie also einfach mit meinem naiven Charme, ob wir nicht zu ihr aufs Zimmer wollen. Mehr als ein „Nein“ oder Gelächter erwartete ich nicht. Barbara sagte jedoch nichts. Sie ging einfach langsam in Richtung Fahrstuhl und versicherte sich zurückblickend, ob ich ihr auch folgte. Tja, jung wie ich war, ging ich natürlich breit grinsend, fast sabbernd hinterher. Ich kam mir vor, als hätte ich den „Heiligen Gral der Pumajagd“ errungen. Wir landeten also in Zimmer 49, Etage 3, rechts. Aus heutiger Sicht war dies die letzte wirklich schöne Nacht für mich. Bis zur Schmerzgrenze durchfickten wir die Morgenstunden und schliefen zusammen ein.

Geweckt wurde ich jedoch von Lisa, der Allzweckamazone im Roomservice. Ihre mit genervter Stimme ausgesprochenen Worte klingen noch heut in meinen Ohren: „Paul, zieh dir was an und vergiss den Umschlag da nicht.“ So harsch wie sie mich weckte, so zischend verließ sie den Raum. Ich konnte der ganzen Situation nicht wirklich folgen, suchte meine Klamotten zusammen und zog mich an. Erst dann sah ich den Umschlag. Kein Wort, nur 1000 Euro... DAS war der Abschied von Barbara. Was soll man dazu sagen: Ich hatte einen echt geilen Fick und bekam einen derbe harten Schlag in die Fresse. Ich fühlte mich schlecht und ausgenutzt. Ich verstand diese Gefühle nicht einmal. Ich meine, ich hatte einen geilen Fick und bekam dafür auch noch Kohle? Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, 1000 Euro von oben. Doch mein Herz und meine Seele wurden missbraucht. Ich war doch keine Nutte, keine verdammte Nutte! Diese Worte verfolgten mich lange!

Ich wollte das Hotel nur schnell verlassen und nach Hause. Fast hätte ich es auch geschafft, doch dann erwischte mich der Alte – mein Chef – kurz vor dem Angestelltenausgang. Er sagte nicht viel, aber es war deutlich: Ich brauchte nicht wiederzukommen! Diskutieren, flehen oder gar zu betteln half mir nicht, auch kein Geflenne. Es galt wohl als ungeschriebenes Gesetz, dass studentische Angestellte in ihrer Freizeit mit den Besuchern nicht auf Tuchfühlung gehen durften. So fuhr ich nach Hause. Die Zukunft war ungewiss. Manche Fehler bereut man sein Leben lang. Meine Welt hatte sich verändert. Es klingt vielleicht lächerlich – auch heute noch – und trotzdem wurde nichts mehr, wie es war. – Schicksal! –
 

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